Stellungnahme der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zur ForuM-Studie


06.02.2024 - Die Durchführung der Studie war eine Empfehlung der Aufarbeitungs-kommission 2018. Weitere zentrale Anliegen, die sie damals formuliert hat, sind auch im Jahr 2024 noch immer nicht umgesetzt worden. Hier darf es keine weiteren Verzögerungen geben. Die evangelische Kirche muss für die Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs in ihrer Vergangenheit und deren Aufarbeitung jetzt Verantwortung übernehmen.


Der interdisziplinäre Forschungsverbund ForuM, der nach dreijähriger Arbeit am 25. Januar 2024 seinen Abschlussbericht „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“, die ForuM-Studie, vorgelegt hat, benennt 2018 als das Jahr, in dem auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich erstmals dazu positioniert hat, sich der Aufarbeitung ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte zu stellen. Im Juni 2018 fand das öffentliche Hearing der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zum Thema „Kirchen und ihre Verantwortung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ statt. Dort haben Betroffene sexuellen Missbrauchs auch die EKD aufgefordert, sich ihrer Verantwortung aufrichtig zu stellen. Anknüpfend an diese Forderungen hat die Aufarbeitungskommission in einer Stellungnahme erläutert, wie die evangelischen Landeskirchen ihrer Verantwortung gerecht werden müssen. Sie hat u.a. eine wissenschaftliche Studie empfohlen, die das evangelische Gesamtfeld einschließlich der Diakonie untersucht. Die EKD hat daraufhin 2020 die vom Forschungsverbund ForuM erstellte unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitungsstudie in Auftrag gegeben, welche jetzt vorliegt.

Die ForuM-Studie: Eine große Forschungsleistung trotz mangelhafter kirchlicher Kooperation

Durch die Ergebnisse der ForuM-Studie kann die evangelischen Kirche nicht länger ihr Selbstbild der „besseren“ , aufgeklärteren und liberaleren Kirche aufrechterhalten, in der keine Strukturen existieren, die sexuellen Kindesmissbrauch in einem ähnlichen Umfang ermöglichten, wie in der katholischen Kirche. Diese Haltung führte dazu, dass die EKD es lange Zeit nicht wirklich wissen wollte und eine umfassende Aufarbeitung verhindert wurde. Die Forscher*innen haben hervorragende wissenschaftliche Arbeit geleistet trotz der Hürden, die sie von den Landeskirchen in den Weg gestellt bekamen, indem die vertraglich vereinbarten Personalakten dem Forschungskonsortium nicht zur Verfügung gestellt wurden. Die Verantwortung für die dadurch fehlenden oder unvollständigen Daten in der Studie liegt bei der EKD. Diese Verantwortung darf weder auf die Forschenden übertragen werden, noch dürfen die Betroffenen, welche die Studie unterstützt und überhaupt erst möglich gemacht haben, in Mithaftung genommen werden.

Handlungsbedarf: Forderungen der Aufarbeitungskommission

Die ForuM-Studie hat ein komplexes Feld von Problemzonen in der evangelischen Kirche aufgezeigt, die Aufarbeitung bislang verhindert haben. Als Aufarbeitungskommission sehen wir wie schon 2018 vor allem bei den folgenden Bereichen Handlungsbedarf seitens der EKD:

  • Betroffenenbeteiligung: Die EKD ist den Betroffenen zu lange nicht mit dem gebotenen Respekt vor ihrer Würde begegnet. Sie hat ohne Empathie gehandelt, den Anspruch Betroffener auf Gerechtigkeit ignoriert oder den Wunsch nach partizipativen Prozessen der Aufklärung und Aufarbeitung enttäuscht. In einem schmerzlichen Lernprozess der EKD ist ein Beteiligungsforum entstanden, das vor allem die Mitwirkung der Betroffenen sicherstellen soll. Diese wird auch bei der Umsetzung der Empfehlungen der ForuM-Studie von zentraler Bedeutung sein. Ebenso müssen die kirchenunabhängige Vernetzung und Selbstorganisation von Betroffenen ermöglicht und gefördert werden, um auch jene zu erreichen, die am Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung mitwirken wollen, ohne erneut in engeren Kontakt mit der Institution eintreten zu müssen. Wie wichtig dies ist, zeigt auch die gelungene Einbeziehung von Betroffenen als Ko-Forschende in Teilprojekten der Studie.
  • Strukturelle Defizite überwinden: Die Selbstwahrnehmung weiter Teile der evangelischen Kirche als progressiv und liberal und ein von „Harmoniezwang“ und Konfliktunfähigkeit dominiertes „Milieu der Geschwisterlichkeit“ haben zu dem Mythos geführt, die evangelische Kirche sei ein sicherer Ort. In einem solchen institutionellen Kontext herrschen Intransparenz, Verantwortungsdiffusion und es fehlen verbindliche Regeln im Umgang mit Grenzüberschreitungen. Hier hat die evangelische Kirche nicht nur die Aufgabe, ihre evangelisch-spezifische Haltung einer kritischen, auch theologischen Reflexion zu unterziehen, sondern auch klare und einheitliche Standards für alle evangelischen Träger und Einrichtungen zu schaffen.
  • Recht auf Aufarbeitung: Wiederholt wird von den Kirchen ein stärkeres Engagement des Staates bei der Aufklärung und Aufarbeitung der Verbrechen des sexuellen Kindesmissbrauchs im institutionellen Raum gefordert. Die evangelische Kirche darf sich damit ihrer Verantwortung nicht entziehen. Dennoch sind gesetzgeberische Schritte zur Gewährleistung eines Rechts auf Aufarbeitung für Betroffene notwendig. Das derzeit geplante Gesetz, das sich mit den Aufgaben der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und der Aufarbeitungskommission auf Bundesebene beschäftigt, muss einen Rahmen für die Aufarbeitung in den Institutionen schaffen, also auch den Kirchen, so dass sich die staatliche und die in den Kirchen selbst erfolgende Aufarbeitung ergänzen. Daher sollte die Kirche das Recht auf individuelle Aufarbeitung einschließlich des Rechts auf möglichst weitgehenden Aktenzugang kirchenrechtlich verankern. Korrespondierend zum individuellen Recht für Betroffene sollte die Kirche für sich die institutionelle Pflicht zur Aufklärung und Aufarbeitung annehmen.
  • Anerkennungszahlungen: Betroffene beklagen zu Recht, dass die von den Landeskirchen bislang beschlossenen Anerkennungs-/Entschädigungszahlungen intransparent, uneinheitlich, willkürlich und zu niedrig ausgefallen sind. Das gesamte Verfahren muss vereinheitlicht und transparent gestaltet werden. Die Anerkennungszahlungen müssen sich an der neueren Entwicklung im Bereich der staatlichen Gerichte orientieren. Der Maßstab dafür sollte die Summe von 300.000 Euro sein, die das Landgericht Köln im Juni 2023 einem Betroffenen sexualisierter Gewalt im Bereich der katholischen Kirche zugesprochen hat. Die Plausibilitäts- und Kausalitätsprüfungen dürfen im Sinne der Betroffenen nicht zu eng gehandhabt werden. Die Anerkennungskommissionen müssen zügig entscheiden, innerhalb von drei bis vier Monaten; das gilt auch für den Fall, dass Betroffene die Überprüfung der Entscheidung der Anerkennungskommission beantragen. Die Entscheidungen der Anerkennungskommissionen sind aussagekräftig zu begründen. EKD und Diakonie müssen sicherstellen, dass sich die Anerkennungskommissionen regelmäßig in engen zeitlichen Abständen insbesondere über die Praxis der Plausibilitätsprüfung und die Kriterien zur Bemessung der Höhe der Anerkennungszahlungen austauschen und verständigen.
  • Die Rolle der unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen: Im Dezember 2023 haben EKD, Diakonie und UBSKM eine „Gemeinsame Erklärung“ zu Standards und Kriterien der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt unterzeichnet. Mit dieser Erklärung verpflichtet sich die EKD neun regionale unabhängige Aufarbeitungskommissionen zu schaffen. Eine erste Aufgabe dieser Kommissionen sollte die Erarbeitung von Konsequenzen im jeweiligen landeskirchlichen Kontext aus den Befunden der ForuM-Studie bilden. Insbesondere sollte sie klären, wie die bisher nicht erfolgte Auswertung von Personalakten vorgenommen werden kann.

Die Glaubwürdigkeit und Zukunft der evangelischen Kirche in Deutschland hängt nach unserer Überzeugung entscheidend davon ab, dass sie die mit der ForuM-Studie aufgezeigten eigenen Fehler und Mängel anerkennt, dafür Verantwortung übernimmt und die gebotenen Konsequenzen unverzüglich umsetzt. Vor allem braucht es endlich eine umfassende Aufklärung aller Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie des Umgangs damit im Verantwortungsbereich der EKD. Dies ist die Kirche den Betroffenen schuldig.


Pressekontakt

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Kirsti Kriegel
Telefon: +49 (0)30 18555-1571
Fax: +49 (0)30 18555-4 1571
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